Manche Firmen warten nicht erst, bis sich ihre Produkte langsam am Markt durchsetzen, sie erobern ihn im Sturm. Zu dieser Kategorie gehört zweifellos der 1987 gegründete Möbler Edra.
Paradiesvogel der Möbelindustrie
Die Geschwister Valerio und Monica Mazzei hatten von Anfang an das Besondere im Blick: exklusive Exotik made in Italy. Sie setzten auf das Einzelstück, den Blickfang, dem sie immer einen Dreh mitgaben. Wer sonst (außer vielleicht Philippe Starck oder den Brüdern Campana, die übrigens für Edra arbeiten) hätte ein Spaghetti-Knäuel aus Kunststoff zu einem Stuhl verarbeitet? Der Stuhl „Gina“ aus transluzentem Polycarbonat und schwarzen Holzfüßen stellt sich nicht einfach in die Reihe oder an eine Tafel, er möchte selbst glänzen. Designer Jacopo Foggini gab dem Formlosen Gestalt und spendierte uns einen überraschend bequemen Stuhl. Ähnlich exotisch kommt auch „Ella“ daher, eine amorphe Antwort auf die Experimente der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Waren es damals Sitzschalen aus weißem Kunststoff, so sind es nun grünblau schimmernde Polycarbonate, die sich wie unregelmäßige Blüten öffnen. Die Form wird per Hand nachbearbeitet. sodass die Serie mit der Idee des Unikats spielt. Auch „Ella“ stammt von Jacopo Foggini, der einen soliden Fuß aus Metall wählte, um dem Sitzobjekt den nötigen Stand zu verleihen.
Bekannt geworden ist Edra allerdings durch zwei Entwürfe, die inzwischen so ikonisch wirken, als wären sie wesentlich älter (was für die Firmenstrategie spricht): „Tatlin“ von Canzani und Semprini sowie „Getsuen“ von Masanori Umeda. Das eine, ein Blickfang-Sofa von beachtlichen Ausmaßen, angelehnt an den revolutionären Entwurf von Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin für die Dritte Internationale (entworfen 1919), zeigt mit der sich schneckenartig nach oben verjüngenden Sitzspirale eine gezähmte Version der nie gebauten Architekturikone, auf der sich gut und gerne acht bis zehn Besucher tummeln können. Ihr roter Bezug ist als augenzwinkernde Hommage an die sozialistische Idee zu verstehen, ganz anders bei „Getsuen“, einem Blütensessel aus rotem Samt, der sich für seine Besitzer öffnet. Form und Farbe verschmelzen hier zu einer Einheit und führen oft dazu, dass man sich im Sessel ausgiebig aalt.
EDRA STEHT FÜR DIE EVOLUTION DER VERSCHMELZUNG VON MODERNER TECHNIK UND KÜNSTLERISCHER TRADITION
Der Name Edra spielt übrigens auf das griechische „Exedra“ an, eine erhöhte Nische an einem öffentlichen Ort, an dem schon mal Philosophen eine gepflegte Auseinandersetzung suchten. Später wurde die Exedra Teil der römischen Villa und somit häuslicher Repräsentationsort. Von Anfang an hatte der künstlerische Direktor Massimo Morozzi dafür gesorgt, dass Edra genau dieser Repräsentationsort wurde.
Er versammelte talentierte Entwerfer wie Inga Sempé, Masanori Umeda oder Francesco Binfaré sowie die Brüder Campana in einer außergewöhnlichen Kollektion und gab ihr auf Möbelmessen die Aura des Geheimnisvollen. Er schuf dramatische Inszenierungen mit abgedunkelten Ständen, auf denen Objekte wie Juwelen ausgestellt wurden. Edra wurde schon bald zum Paradiesvogel der Möbelindustrie, mit hochwertiger Verarbeitung, exklusiven Materialien (oder zumindest neuem Einsatz bekannter Materialien) sowie extravaganten Formen.
Edra stehe für die „Evolution der Verschmelzung von moderner Technik und künstlerischer Tradition“, heißt es bei der Firma selbst – Design ist hier nicht nur extravagante Form und bestmögliche Verarbeitung, sondern ein Stück Innovation. Da wäre das „intelligente“ Kissen, das sich nach Belieben neigen lässt. Oder das Innenleben aus Gellyfoam®, für das Edra sogar ein Patent hält. Seit 2004 verspricht die besondere Mischung diverser Schäume „extreme Anpassungsfähigkeit“ und Komfort für alle Besitzer. Das Ziel: „absolute Entspannung“. Damit nicht genug. Immer wieder setzt Edra noch etwas drauf.
Den seit einiger Zeit zu beobachtenden Felltrend jedenfalls toppt der toskanische Fabrikant mit einem gigantischen Sofa von Francesco Binfaré. Man traut seinen Augen kaum. Räkelt sich auf „Pack“ nicht ein Eisbär mitten auf dem Sofa? Beziehungsweise ein Schwarzbär auf der dunklen Variante? Die Silhouette jedenfalls legt es nahe. Der gemütliche Allesfresser dient als breite Lehne, an dessen Kunstfell man sich schmiegt. „Pack“ jedenfalls braucht Platz. Zweimetervierzig auf dreisiebzig, um genau zu sein.
Vor gerade 30 Jahren zeigte Edra die erste Kollektion „I nouvissimo“ und hat sich seither zu einem etwas schrägen, aber zugleich sehr vorzeigbaren Player der Möbelindustrie verwandelt, dessen Entwürfe in allen führenden Magazinen und Design-Sammlungen stehen. Wie also sollte das Unternehmen sein Jubiläum feiern? Am 30. Oktober 2017 jedenfalls gab es eine standesgemäße Gala auf der Triennale in Mailand mit Silvana Annicchiarico, Direktorin des Design Museums der Triennale. Und ein eigenes Buch mit dem klingenden Titel „Our Story – A Journey through Beauty“. Und diese Reise ist noch nicht abgeschlossen. Wir dürfen uns auch in Zukunft auf (und über) aufsehenerregende Entwürfe und neue technische Details freuen.