Die Weißenhofsiedlung in Stuttgart

Vor 100 Jahren revolutionierte das Neue Bauen unser Leben. Hoch über Stuttgart thront noch immer die Weißenhofsiedlung. Ein Bericht über die wohl schönste Flachdachsiedlung Deutschlands.

Worum ging es bei der Werkbundsiedlung?
Die Bauausstellung des Deutschen Werkbundes von 1927 sollte neue Formen des Wohnens zeigen. Unter dem einfachen Motto „Die Wohnung“ errichteten 17 internationale Architekten, darunter Avantgardisten wie Le Corbusier, Walter Gropius und Hans Scharoun, 21 Musterhäuser. Ludwig Mies van der Rohe, künstlerischer Leiter der Bauausstellung, wollte gar „Neuland erobern“. Er war überzeugt davon, dass sich „ein neues Wohnen über die vier Wände hinaus auswirken“ werde.
Längst ging es nämlich um mehr als nur eine neue Behausung oder einen guten Bebauungsplan, es ging um Werte, wie sie Werkbund, Bauhaus und De Stijl nahezu gleichzeitig vorantrieben. Der Ruf nach Licht, Luft und Sonne richtete sich an Bewohner von stickigen Arbeitersiedlungen und Mietskasernen. Man wollte eine gesellschaftliche Modernisierung der Weimarer Republik, die nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem Frieden von Versailles nach demokratischen Perspektiven suchte.

„Einfache, gut durchdachte Wohnungen, unter Vermeidung alles Salonhaften und Überflüssigen“
Doch zunächst galt es, die grassierende Wohnungsnot durch rationales, also kosteneffizientes Bauen zu lösen. Die Architekten der Weißenhofsiedlung experimentierten mit Skelettkonstruktionen und Fertigteilen. Die Ausstattung der Häuser blieb eher spartanisch.

Mies van der Rohe wollte „einfache, gut durchdachte Wohnungen, unter Vermeidung alles Salonhaften und .berflüssigen“. Es gab zwar Einbauschränke, ein Bad und helle Räume, die einfach zu reinigen und quer zu lüften waren. Freischwinger und edle Ledermöbel, die wir heute erwarten würden, gehörten jedoch nicht zum Inventar. Die Wohnungen waren schlicht und karg möbliert.

Was aber war der Bauhaus-Stil?
In seinem berühmten Manifest „Grundsätze der Bauhausproduktion“ von 1926 sprach Gropius vom Dreiklang „haltbar, billig und schön“. Er war sich im Klaren, dass das nicht mit der bisherigen Ästhetik zu erreichen war. Es bedeutete einen Sprung, wie ihn die bildende Kunst längst vollzogen hatte, also ganz „ohne romantische Beschönigungen und Verspieltheiten“ zu denken.

Das Le-Corbusier-Haus in der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung.
Das Le-Corbusier-Haus in der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung.

DIE BEFÜRWORTER SAHEN IN DER WEISSENHOFSIEDLUNG DEN AUFBRUCH IN EINE NEUE WELT, IHRE VERÄCHTER FÜRCHTETEN DEN VERFALL DES ABENDLANDES.

„Ich baue Wohnungen und keine Konservenbüchsen“,
erklärte Mies van der Rohe.

Und Klarheit bot die Weißenhofsiedlung, ornamentlos, ohne Satteldach und hinter reinweißen Fassaden. Rund 500.000 Besucher wanderten durch ihre kubische Architektur und erlebten die Baukunst der Moderne. Fließende Räume versprachen ein neues Lebensgefühl. „Ich baue Wohnungen und keine Konservenbüchsen“, polemisierte Mies van der Rohe. Am konsequentesten setzte diesen Anspruch Le Corbusier um. Der Schweizer konzipierte ein Wohnzimmer so, dass es sich durch Schiebewände und -betten in mehrere Schlafzimmer verwandeln ließ.

Die Nazis erklärten die Weißenhofsiedlung zum Schandfleck
Die Kritik an diesem Wohnexperiment war groß, auch von Seiten der Politik. Mies van der Rohe übermalte daher eine Postkarte der Siedlung mit Giebel- und Walmdächern und zeichnete Kirchtürme ein. Dazu vermerkte er spöttisch: „Die Weißenhofsiedlung, wie sie würde, wenn Rechtsmittel zur Verfügung stünden.“

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Ikone der Moderne in der Nazizeit zum Schandfleck erklärt, verkauft und beinahe abgerissen wurde. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurden die Reste teils bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. So verpasste man Peter Behrens fein gestaltetem Haus ein Satteldach und verschandelte es durch zusätzliche Balkone.

Heute ist die Weißenhofsiedlung als Denkmal anerkannt
Erst 1958 wurden die verbliebenen Originalgebäude unter Denkmalschutz gestellt und zerstörte Häuser bis 1961 durch Kopien ersetzt. Was wir also heute sehen, ist zugleich ein Blick auf fast 100 Jahre Moderne und eine Art Palimpsest aller Renovierungsarbeiten des letzten Halbjahrhunderts. Die Weißenhofsiedlung steht jenseits großer gesellschaftlicher Diskussionen und ist als Denkmal anerkannt. Heute wird deutlich, dass sich der Stuttgarter Gemeinderat auf ein wunderbares Wagnis eingelassen hatte. Ohne die Unterstützung des Deutschen Werkbundes wäre das nie möglich gewesen. Und auch ohne eine revolutionäre oder sollte man sagen: lebensreformierende Stimmung im Lande.

Weissenhofsiedlung Stuttgart 1927.
Weissenhofsiedlung Stuttgart 1927.

Die „kompromisslos gebauten Idee von Zukunft“ ist heute wieder gefragt
„Die Architektur fand ihren Weg zur Moderne im Fahrwasser der Literatur und bildenden Kunst“, meint etwa der Architekturtheoretiker und lang jährige Direktor des Deutschen Architekturmuseums Vittorio Lampugnani. „Von diesen bezog sie auch vielerlei Anregungen: an erster Stelle den Anspruch, die Wirklichkeit der zeitgenössischen Welt möglichst exakt widerzuspiegeln, aber auch die Verpflichtung, dies mit gesellschaftskritischem Blick zu tun.“ Dieser Blick ist in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung zu spüren.
Die weißen Häuser wirken nach. Uwe Fischer, seit 2001 Professor für Industrial Design in der Fachgruppe Design an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, schwärmt von der „kompromisslos gebauten Idee von Zukunft“. So etwas würde er sich auch heute wieder wünschen angesichts von lauter Vintage und Fachwerkromantik.

 

Fotos:
Photo Mercedes-Benz Classic
Photo (Postkarte) © Verein der Freunde der Weißenhofsiedlung e. V

Klassiker aus der BAUHAUS Zeit. Auch heute noch von vielen begehrt.
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